Klaus Runze
Musik heute -Enteignung des Menschen
Öffentliche Gedankenführung zu einem verborgenen Thema
Teil 1: Statement
Kultur ohne Musik? - Die veränderte Rolle der Musik im Zeichen zunehmender Bedeutung der visuellen Kultur.
Ich greife den Ball des Themas auf:
Was ist "visuelle Kultur"? Sind nicht vielmehr die visuellen Okkupationspraktiken unseres Lebens gemeint - also die visuell überfrachteten Zivilisationserscheinungen?
Das Äquivalent hierzu:
Die Zersetzung unseres gesamten Lebens vom Bereich des Auditiven her - das, was wir Musik zu nennen pflegen, ist zu dem eigentlichen Herd einer Krebserkrankung geworden, die unsere geistige Potenz lähmt: Nicht der Straßenlärm ist das, was uns in erster Linie bedrängt, sondern die Phalanx der Klänge aus zweiter Hand, die in breiter Front gegen uns vordringt und der wir nur schwerlich auszuweichen vermögen.
Die militaristischen Termini sind nicht zufällig gewählt - die Auseinandersetzungen, in die wir hineingezogen werden, nötigen uns immer mehr die fatale Einsicht ab, daß sich die Musik in unserer gesellschaftlichen Existenz zu einer paramilitärischen Einrichtung hochstilisiert hat - oder herabgewürdigt hat, wie man es nehmen mag.
Wo erkannt wird, daß Verantwortung im Geistigen zu übernehmen ist, gilt es dieser Entwicklung entgegenzutreten: Wir haben zu konstatieren, daß Musik buchstäblich verlorengeht - es ist unsere Aufgabe, diesem "Unfug des Sterbens" Einhalt zu gebieten.
Unfug des Sterbens - was heißt das?
Musik ist mehr als Kunst -
Musik ist Leben.
Musik lebt - ist nur als Lebendiges denkbar, als
vom lebendigen Menschen zu Vollziehendes,
vom lebendigen Menschen Erfahrbares.
Erfahrbar durch ein Sich-Anvertrauen.
Sich anvertrauen dem Prozeß des Lebens.
Dem Prozeß des Lebens, der im Spiegel der Musik Gestalt annimmt.
Bewegte Gestalt. Sich verändernde Gestalt. Erinnerte Gestalt.
Nicht: verfestigte Gestalt - nein, verfestigte Gestalt ist nicht mehr ein Spiegel des Lebens, des Erlebens.
Verfestigte Gestalt: Umkehr des Lebendigen, Tod. Musik, wie wir sie heute zu erfahren haben:
Tötung. Tötung unseres Lebens.
Abtötung. Abtötung unseres Erlebens.
So kann Erfahrbarkeit nicht bewahrt werden -wiedererlangt werden.
Musik, wie sie sich heute uns darbietet, ist nicht mehr Spiegel des Lebens, ist uns nicht als Musik im eigentlichen Sinne erfahrbar; sie hat sich mit Gefängnismauern umgeben, denen sie selbst nicht entweichen kann.
Schlimmer: sie schickt sich kaum an, ihnen zu entweichen. Sie mauert sich immer mehr ein. Sie verliert sich.
Musik verliert sich in uns. Sie verliert es, zu wissen, daß sie zu uns gehört, daß sie in uns lebendig sein kann. Sie jagt nur einem Machtanspruch nach.
Machtanspruch: In der Tat, Musik hat Macht. Sie ahnt es. Sie gebärdet sich. Sie nimmt alles zuhilfe, was ihrer Machtausübung dienen kann. Sie beherrscht uns.
Herrschaft. Herrschaft der Musik - der Musik? Wohl doch der sich anmaßend als Musik ausgebenden Übertönung des Lebens, gegen die es nur ein Mittel zu geben scheint, mit dem das Leben sich selbst zur Wehr setzen kann: Verweigerung. Verweigerung gegenüber dem Unerträglichen -gegenüber dem Zustand der Perversion, zu dem wir, die wir uns zur Musik als menschlicher Aussagemöglichkeit bekennen, verhaftet werden. Verhaftung, der wir kaum zu entgehen vermögen.
Klang und Bild...
Musik und bildnerisches Werk -Während wir bei aller Übersteigerung visueller Reize dem Auge soviel Eigenständigkeit - ja Eigengerechtigkeit zutrauen können, daß es selbst entscheidet, wo es noch aufzunehmen bereit sein kann, sieht sich das Ohr in der Agonie - es ist dem ausgeliefert, was sich vordrängt, um in seine feinorganisierte offene Gestalt 9inzud ringen. Wie in eine Wunde.
Das Ohr als Wunde des Menschseins. Der Eigenmächtigkeit des Auges steht die Ohnmacht des Ohres gegenüber - des Ohres, das aufnimmt im Hören und weiterleitet im Prozeß des Erlebens - das abgibt und damit Sprache bewirkt . . das sprachbildend wirkt.
Sprache bildend...
Sprache als ein Eigentliches, welches das menschliche Leben ausmacht. Sprache als Form des Geistigen, das uns in der Gestaltbildung der Sprache bindet.
Sprache als das, was dem Ohr anvertraut ist - dem Ohr, das hört. Es hört.
Das Ohr hört - was gehört wird, ist Klang.
Klang ist - wird er erlebt - Musik.
Musik ist nicht anders denkbar als lebendig.
Lebendige Vermittlung.
Vermittlung des Menschen; zum anderen Menschen.
Sprache und Musik...
Musik ist nicht verzichtbar, wollen wir Menschen bleiben.
Wollen wir nicht Verstummen.
Stumm.
Stumm werden vor Entsetzen - angesichts der Musik in der heutigen Zeit.
Was ist gemeint?
Musik heute - die Enteignung des Menschen
Wir befinden uns heute - zum Ende des 20. Jahrhunderts hin - in einer Situation, in der die Musik -so, wie sie sich gibt - uns droht, uns unserer selbst zu berauben.
So verstanden, begeben wir uns - begleitet von der Musik als getreue Dienerin des Lebens, die wir im Begriff sind rücksichtslos auszunutzen - in einen Zustand der Enteignung unserer selbst:
Wir lassen es zu, daß der Mensch in uns, im Menschen, unkenntlich wird, verloren geht, übereignet wird einem Unbekannten - einem Anonymen, dem wir uns damit überantworten.
Dieser Grabrede, die der Sorge um die Natur des Menschen entsprang, soll nun der Versuch gegenübergestellt werden, einiges von der Natur des Menschen wiederzuentdecken - ja vielleicht, wieder greifbar werden zu lassen, was da als Nicht-mehr-Erfahrbares im Ur-Zustand seiner selbst unserem Bewußtsein entschwindet.
Es ist der eigentümliche Vorgang zu beobachten, daß wir dabei zu einer Art zeit-unabhängiger Archäologie vorstoßen - zu einem Absteigen zu den Tiefen unserer Erfahrung, zu einem Rückgriff auf vorgestellte Ur-Zeit-Dimensionen: Das Auffinden archaischer Strukturen in uns selbst wird in einem gleichsam archäologischen Bemühen möglich, bei welchem diese - die archaischen Strukturen - auf eine punktuelle Gegenwartsstufe bezogen, sozusagen a-historisch erfahrbar werden.
Der Musikschwemme von heute, welche nur noch deutbar ist als ein pathologischer, autistischer Anachronismus - der die Grenze zum Kannibalismus schon im Begriffe ist zu überschreiten - gilt es im ästhetischen Bereich eine "archekryptische" Lebenssituation wiederherzustellen - einen Zustand, in dem wir das, was ,Von Anbeginn" in uns vorhanden, wenn auch "verborgen" und zugedeckt vorhanden ist, wahrnehmen, erleben, Wirklichkeit werden lassen.
Musik und Bild im kulturellen Prozeß
Zu diesem eingegrenzten Thema soll mein Beitrag in Beziehung stehen...
Ich möchte den Titel dieses Beitrages - Enteignung des Menschen - nun umformen und sagen: Von der Suche nach der Eignung des Menschen zu seiner Wiederaneignung - zur Wiedergewinnung von Eigenschaften, die uns als einem lebenden, lebendigen Wesen - der Spezies Mensch - "eigentlich" gegeben sind. Gegeben, d.h. eingegeben in die geistige Entwicklung, in die wir gestellt worden sind - ist uns sozusagen die Möglichkeit einer bevorzugten Inanspruchnahme zweier Sinne: des Auges und des Ohres. Sie eignen sich recht gut zur Erfahrbarmachung von Lebensvorgängen - aus dieser Urtatsache ergab sich im Laufe unserer Entwicklung eine Herausbildung dessen, was wir das "Ästhetische" nennen -woran, wie bekannt - Auge und Ohr in ganz besonderer Weise beteiligt sind - oder sagen wir lieber: Ohr und Auge / Ohren und Augen? Ist es nicht vielmehr so, daß das Ohr - schon von der physiologischen, ja anatomischen Struktur her -eine Art Primärfunktion hat? Können wir das Ohr verschließen, wie wir es mit dem Auge tun können - ja, wie es bekanntlich auf natürliche Weise in uns angelegt ist, das Auge im Zwinkern durch einen Selbstschutz-Mechanismus schließen zu können?
Ist nicht in der umgangssprachlichen Reihenfolge, die wir sicherlich alle auf der Zunge haben - sie wurde auch zum Namen der wohl schon legendären Ausstellung in der Akademie der Künste, Berlin, 19801 - nämlich, daß wir von Augen und Ohren sprechen - ein gewichtiges Indiz dafür zu sehen, daß wir das Gehör seiner eigentlichen Funktion beraubt haben - also daß wir ihm seine primäre Rolle nicht mehr bereit sind zuzuerkennen?
Sollte sich die schon ans Tragische grenzende Korrumpierung der Musik in der heutigen Zeit als Folge des Linsengerichts erweisen?
Was tun wir für Esau? Wie können wir ihn retten?
Wie können wir ihn bewahren vor einer Vorherrschaft Jakobs, die zu seiner Verkümmerung gerät?
Ist der Zustand der Musik heute als die späte Rache Esaus zu deuten - die Rache dessen, der seine letzten Endes größere, weil gleichsam innen verwurzelte Kraft, die im Aufnehmen, Empfangen begründet liegt, nie verloren hat? Der sie auch nie verleugnet hat - der jetzt, da die Vorherrschaft des Auges überhand nimmt - nur durch Ausbruchsversuche und Herrschaftsansprüche zuvor nicht für möglich gehaltenen Ausmaßes die Situation bestehen zu können meint? Die Rache des Ohres - wie weit haben wir uns selbst dabei verloren - eben: enteignet?...
Suchen wir nach Möglichkeiten der Wiederaneignung - nach dem Weg, uns unserer selbst wieder gewahr zu werden in der Verschwisterung dieser beiden existentiellen Tentakeln - des Ohres und des Auges als einem Geschwisterpaar. Versuchen wir, uns wieder uns selbst anzueignen mit diesen beiden Instrumenten, mit denen uns die Natur in so besonderer, eben "bevorzugter" Art und Weise bedacht hat - reduzieren wir sie nicht auf das sozusagen Ästhetische - ahnen wir doch, daß wir das unglückselige Verhältnis Esau - Jakob damit präjudizieren. Versuchen wir, mit ihnen zu leben - in unserem Leben mit ihnen umzugehen, sie als befreundete Organe in uns zu verstehen. Hüten wir uns davor, die ursprüngliche Rolle des Ohres - immer geöffnet zu sein - zu verkennen und dieses zur Offenheit bereitstehende Instrument unseres Lebens mit den Scheuklappen visueller Überfrachtung buchstäblich zuzuklappen - es schlägt zurück!
Kehren wir zu dem Wagnis subjektiver Aussage zurück!
Scheuen wir uns nicht vor dem Vergleich, daß auch Gehör und "Gesicht" im Innern der einen, sich selbst gegenüber ungeteilten Person zusammengeschaltet sind!
Der geschlossene Kreis in der Erfahrung eines einzelnen Menschen sei uns ein Spiegel größerer Zusammenhänge, die gleichsam in der Art eines Laterna-Magica-Verfahrens durch uns hindurch-gehen, um in veränderter Gestalt nach außen zu dringen - subjektive Aussage als Protokollführung eines Prozesses, in dem die Objekte der Erfahrung gefiltert in Erscheinung treten.
Teil II: Persönliche Stellungnahme
Es mag erlaubt sein, von Persönlichem Kenntnis zu geben und damit die Stellungnahmen, die hier geäußert wurden, von der existentiellen Erfahrung her zu verdeutlichen - aufzuzeigen, wie bestimmte existentielle Gegebenheiten, welche unsere heutige Situation ganz allgemein betreffen, sich der ästhetischen Filter des Ohres und des Auges bedienen, um in gesteigerter Form erlebbar zu werden.
Die Details, die ich aus dem individuell Erlebten anführe, mögen exemplarisch als Hinweise zu der Schlüsselfunktion dienen, die sie - wie mir scheint - zur Deutung der Situation, in der wir alle stehen, anzunehmen vermögen.
Als ich im Januar 1945 im Berlin der täglichen Luftangriffe eines Tages mit der ersten morgendlichen 8-Bahn zur Konzertkasse von Bote & Bock gefahren bin, um nach stundenlangem Anstehen eine Eintrittskarte für ein Furtwängler-Konzert zu erhalten, ahnte ich wohl nicht, daß die Wirkung der g-MoIl-Symphonie von Mozart und der 1. Symphonie von Brahms einen so nachhaltigen Eindruck auf den Heranwachsenden, welcher ich war, ausüben würden, daß dies alles mir heute, nach fast vierzig Jahren, noch lebhaft vor Ohren - und auch Augen - steht. Wenn man bedenkt, daß ich gerade abends in der Staatsoper (im Gebäude des Admiralpalastes am Bahnhof Friedrichstraße) in dem Bewußtsein saß, daß man bei Fliegeralarm vielleicht nicht mehr nach Hause käme, wird sicherlich verständlich, daß eine sound-geschürzte Fassung der g-Moll-Symphonie von Mozart, die mich 1983 beim Betreten eines netten, kleinen Ladens um die Ecke sanft rieselnd empfängt, zur Verweigerung zwingt: Dies hat dann nichts mehr mit der ursprünglichen Funktion von Musik, die in existentieller Erfahrung liegt, zu tun. Dies ist nur noch als Tötung von Musik zu registrieren - als Liquidierung dessen, was den Wert der sogenannten klassischen Musik, will man von diesem sprechen, ausmacht.
Im Jahre 1956 habe ich die Aufnahmeprüfung für die Abteilung Freie Malerei an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin - die seit einigen Jahren mit der Hochschule für Musik zur Hochschule der Künste vereinigt wurde - gemacht. Es war eine ausführliche dreitätige Arbeitsphase, bei der viele Aspekte des Bildnerischen getestet wurden. Ich erinnere mich an die Situation am Nachmittag des dritten Tages: Von den ca. zwei Dutzend Bewerbern wurde nach langer Besprechung der Prüfungskommission nur eine Bewerberin gesondert vorgebeten; ihr wurde mitgeteilt, daß sie nicht aufgenommen sei - anschließend erfuhren wir übrigen alle, daß wir die Aufnahmeprüfung bestanden hatten.
Weshalb ich diesen Vorgang hier zitiere, ist folgendes:
Diese Bewerberin hatte am letzten Tag - und dieser Punkt war nach meiner Erinnerung ausschlaggebend - zur Aufgabenstellung einer selbständigen, nach eigener Abschätzung anzufertigenden Arbeit eine der bekannten Figuren aus der Ausmalung der Sixtinischen Kapelle von Michelangelo, mit viel Akribie und Detailkenntnis großformatig in Pastell ausgeführt (wie ich mich erinnere, auch ohne die helfende Postkarte der heutigen Straßenmaler), abgeliefert. Demgegenüber hatten alle anderen Bewerber - es war die hohe Zeit des Tachismus - in wohl durchaus als eigen eingestufter Art und Weise zu bildnerischem Ausdruck zu finden versucht.
Wenn man demgegenüber die Funktion der Wiedergabe von vorwiegend sozusagen älteren Zeugnissen der Musik bedenkt, wie diese in der weltweit sanktionierten Form der musikalischen Ausbildung im Vordergrund steht, so scheint mir hier ein frappierender Hinweis zu liegen auf eine mangelnde Eigenständigkeit des Auditiven gegenüber dem Visuellen, was das Tradieren der Sache betrifft. Ich muß betonen: Diese Aufnahmeprüfung war von hohem Anspruch und wurde in folgerichtiger Weise durchgeführt - und ich bin mir der Problemstellung Interpretation - Komposition im Bereich der Musikausbildung durchaus bewußt. Was übrigbleibt, ist einfach ein Unbehagen, daß in der heutigen Musikausbildung das Gleichgewicht gestört zu sein scheint: diese dient nicht primär dazu, dem Menschen die Musik als Möglichkeit der Aussage - was man auch immer darunter verstehen mag - nahezubringen und ihn darauf zu verpflichten; vielmehr steht in erster Linie die Erstellung historisierender Vollzugsautomaten im Vordergrund, durch welche der ursprüngliche Vorsatz, das Erbe der Musik zu bewahren und weiterzutragen, zu einem nicht geringen Teil geradezu paralysiert wird.
Es geschah in der Dressur-Schau eines Meeres-Aquariums, daß ich die Fangarme eines Oktopus in der faszinierenden Vielfalt seiner Bewegungen beobachten konnte - Bewegungen, die in dieser Form, bei diesem Tier, in ganz besonderer Weise an das ästhetische Medium des Films erinnern. Durch die Knochenlosigkeit des Tieres entsteht im Auge der Eindruck einer Verdeutlichung des Zeitablaufs, weil die Bewegungen selbst - als Übertragung von Masse - den Charakter des Strömens, und somit des Strömens im Sinne der Zeitveränderung, sehr ausgeprägt wiedergeben: Die Saugnäpfe der Fangarme, an der Glasscheibe, erhöhten den Eindruck punktuell ablaufender Zeitimpulse. Zu dieser Dressurschau - der Oktopus sollte durch ein enges Plastikrohr schlüpfen - lief eine vielverwertete Ballett-Musik des 19. Jahrhunderts. Die Illusion, daß sich das Tier nach der Musik bewegen würde, war perfekt. Wir kennen diese Form der Verwertung von Musik ja nun alle zur Genüge. Ich habe es dennoch hier angeführt, weil die Perversion dieses Vorgangs mir denn doch so hoch zu sein scheint, daß einem der "Geschmack" für die zur "Verwertung" denunzierte Musik endgültig verdorben zu werden droht.
Sollte es sein, daß der Bereich des Visuellen eher seine ästhetische Autonomie bewahren konnte als dies dem Bereich des Auditiven möglich war? Die Befunde scheinen so zu liegen, daß die Aussage mit den Mitteln des Ästhetischen in den Strudel von Abhängigkeiten gerät, welche von den Auseinandersetzungen innerhalb anderer Bereiche des Lebens bestimmt werden - und daß dabei kulturelle Äußerungen, die im Auditiven ihre Form gefunden haben, von solchen, die sich im Visuellen manifestieren, aufgesogen, erfaßt, erdrückt, verdrängt werden.
Wenn man in diesem Zusammenhang, die ans Unausdenkbare grenzende Vielfalt moderner Großstädte auf den Anteil des Auditiven und den des Visuellen hin beobachtet - den Anteil, welchen jeder dieser Bereiche bei dem Gesamteindruck, den man empfängt, ausmachen - so kommt man zu dem eigentümlichen Ergebnis, daß das Visuelle durchaus im Vordergrund steht, während das Auditive geradezu am Rande verkümmert: Über einen lästigen Kulissencharakter oder bruchstückhafte Versteinerungen aus dem Reservoir unserer Erinnerungen und Assoziationen geht es wohl kaum hinaus.
Für meinen Teil denke ich dabei an den Eindruck, den Tokio als grandioses Stadt-Theater in mir hinterlassen hat: Eine einzige U-Bahn-Fahrt vermittelt so ungewöhnliche, sich selbst in die Potenz treibende Erlebnisse, die vom Visuellen her vermittelt werden, daß man selbst meint ein Bestandteil dieser nicht endenden quasi kubistischen, surrealistischen, "futuristischen" Filme geworden zu sein - die laufend gedreht werden, aber als Filmherstellungen noch nicht existieren. Das Panoptikum der unerwarteten Verknüpfungen läßt die erfahrbare Welt als Museum erscheinen, in dem man als Zeuge der Urwelt mitagiert.
Diesem Reichtum im Visuellen - der nicht zuletzt durch die außergewöhnlichen Veränderungen, die die chinesischen Schriftzeichen dabei erfahren, mitbedingt ist - steht in der japanischen Stadtlandschaft von heute eine aufdringliche Kanalisierung, ja Terrorisierung des auditiven Erlebens gegenüber; als monströse Fortsetzung einer europäischen kolonialistischen Haltung treibt sie die erschreckendsten Blüten: Nicht nur, daß "Stille Nacht", "Ihr Kinderlein kommet" und "Oh, Tannenbaum" als Begleitmusik beim Fischeinkauf - also praktisch überall - zur Neujahrszeit erklingen, nein:
man kann mit Tschaikowsky wandern. Die Lautsprecher an den Laternenpfählen ermöglichen es -man geht eine Hauptstraße in Nara zu den 1000- jährigen Zeugen der buddhistischen Tempel und kann die Takte zählen, die man im Klavierkonzert von Laternenpfahl zu Laternenpfahl benötigt - um es tänzerisch zu erleben oder um zu entweichen. Es besteht keine Gefahr, diese "Musik" zu überhören, denn sie erfüllt die Straße im Fortissimo, ununterbrochen.
Flucht ist, scheint es, die einzige Möglichkeit, der Retorte des Auditiven, das hier seine "negative" Manifestation gefunden hat, zu entgehen. Flucht? Derjenige, der von der sogenannten klassischen Musik geprägt worden ist, sieht sich plötzlich zum eingeschüchterten Eingeborenen eines abseits der großen Entwicklung liegenden Kolonialvolkes degradiert, wenn er mit dem elektronisch gesteuerten Straßenschwall konfrontiert wird, zu dem sie degeneriert wurde: Die Machtfülle der Musik wird zu ihrer Vernichtung eingesetzt -die klassische Musik sterilisiert sich selbst.
Also Flucht?
Nein: Da heraus zu fliehen bedeutet nicht Flucht, sondern birgt in sich die einzige Möglichkeit des Wiedergewinnens von dem, was einem eigen gewesen ist - die einzige Möglichkeit der Wiederaneignung.
Flucht wird hier zum Angriff -Frontalangriff durch Verweigerung. Verweigerung der "züchtigen" Rolle des Hörens gegenüber der Peitsche des Visuellen - die Rettung der Autonomie des Auditiven in seiner Mittlerrolle zum Erfahren des Lebens - und noch viel mehr, darüberhinaus: zur Bewahrung der Autonomie des Visuellen, welches sich in fragwürdiger Selbstübersteigerung seiner eigenen Stärke beraubt hat - sich in einen Lehnsessel aus akustischen Berieselungs-Schaumgummi niederläßt, von der angeblichen Musik mit höchstem Know-How geliefert.
Von Kindern weiß ich, daß sie sehr genau unterscheiden, welche Tiersendung im Fernsehen mit Musikuntermalung läuft und welche nicht. Die erste lehnen sie ab - sie wollen nur diejenige sehen, bei der keine Musik dazu läuft; weil dies stört, wie sie sagen.
Hier wäre der bemerkenswerte Punkt, daß Film als ideale Form raumzeitlicher Gestaltfindung in seinen Möglichkeiten wohl noch kaum erschlossen worden ist. Von wenig bekannten Experimentalfilmen der zwanziger Jahre führt eine direkte Linie in eine Zukunft, die schon jetzt durch die Herrschaft des Visuellen in unserer Welt sowie den irrationalen Machtanspruch des Auditiven, wie ich ihn hier versucht habe aus unseren Erfahrungswerten herauszukristalisieren, blockiert, paralysiert ist - eine Zukunft, die sich anschickt, im Prozeß der Nivellierung ihre eigene Strangulierung zu antizipieren: Sie ist aus - die Zukunft ist aus.
Was bleibt?
Rückbesinnung auf Vorher-Gewesenes, was überall, schon immer und bei allen Menschen, in allen Kulturen bestimmend gewesen ist -
und:
Vertrauen auf selbst zu verantwortendes Handeln, auf Gegenwärtigkeit, auf das, was ist, auf eine innere Verknüpfungsbereitschaft im Hören und Sehen - auf ein Horchen, ein Schauen. Auf das, was beide Funktionen - die des Hörens, die des Sehens - verbindet: die Bewegung -Bewegung im Sinnlichen, Bewegung im Vollzug der Erfahrung des Geistigen.
Vollzug der Erfahrung. Erfahrung als aktiver Vorgang. Prozeß.
Verwandlung.
Vertrauen auf Wandlung - auf An-Verwandlungen...
Es mag gegeben sein, daß ich an dieser Stelle etwas über meine Ausstellungsbeteiligung sage, die ich "Seismographie - Zur Wechselwirkung im Hören und Sehen" genannt habe. Es sind Dokumente meiner Arbeit, die ich als Musiker, der im Bildnerischen stark verwurzelt ist - und als im Bildnerischen arbeitender Mensch, der in der Musik lebt - zusammenfassend so charakterisieren darf:
Das Gehör als das primäre Empfangsorgan eines auf das Ästhetische hin orientierten Lebens ist nach außen - auf die Welt - gerichtet.
Das Gehör schenkt uns Aufmerksamkeit als Qualität des Lebens. Ahnen wir doch, daß das Gehör beim Neugeborenen eine große Rolle spielt - versuchen wir, wach zu bleiben und diese Aufmerksamheit zu bewahren.
Das Gehör sagt uns - es vermittelt uns etwas, was wir als Stimme, als Gesagtes, als Anrufung hören -als Anrufung des Lebens, Ruf zum Leben - zum Erfassen - zum Erfahren vieler Bezüge, die das Ohr allein nicht mehr herstellen kann.
Es ruft nach anderen Organen - es ruft so laut, daß uns die Augen aufspringen - es drängt uns zum Erfassen, zum Erfassen des Vorgestellten, das ein Gehörtes war - ein zunächst nur Gehörtes. Das Gehörte wird ein Erfaßtes - es wird greifbar, sichtbar - das Auge folgt ihm nach - es setzt das Erfassen fort - das Begreifen wird zum Erfassen des Sichtbaren.
Sichtbares wird Spiegel von Gehörtem - Gehörtes und Sichtbares werden Verschwistertes, in Raum und Zeit Verschränktes, das sich im Erfaßtwerden auf anderer Ebene zu neuer Gestalt umbildet - zum Erfahrungsträger des Lebens wird.
Gehörtes und Geschautes werden durch gegen - geschaltete Erfahrung zur Gestalt.
In so gewonnener Gestalt sind Lauschen und Spähen untrennbar zueinander verdichtet.
Suchen wir nach der Verbindung beider, die in uns liegt! Bekennen wir uns zu einer Sicht zyklischen Kulturverständnisses, bei dem Uranfängliches wieder auftaucht und Bedeutung gewinnt - weil es von Anbeginn in uns verborgen liegt, unser Wesen immer mitbestimmt hat und zur Verfügung steht, wenn die Not es "notwendig" macht, daß wir uns ihm erneut zuwenden.
Teil III: Fenollosa, Ostasien und wir
Erinnern wir uns, daß im kultischen Theater beides sinnvoll vereint ist: "ge-Hör" und "ge-Sicht" -Hören und Sehen werden in der Aktion verknüpft, jedes kommt zu seinem angestammten Recht. Die Einheit bleibt gegeben.
Wenn es erlaubt ist, diejenigen Dinge, die weit auseinander zu liegen scheinen, zu verknüpfen, so läßt sich in diesem Zusammenhang feststellen, daß es eine Verbindungslinie gibt, welche vom Spiel der Kinder auf der Straße über Urformen kultischer Handlungen sowie über die Überlieferung der Volksfeste zum asiatischen Theater führt.
Es darf als verhängnisvolles Zeichen unseres eurozentristischen Verhaftetseins in Vorurteilen anzusprechen sein, daß die geistigen Dimensionen, die sich im asiatischen Theater auftun, in einer für europäische Selbstherrlichkeit typischen Form fast unbemerkt geblieben sind - wenigstens wohl in Bezug auf die allgemeine Rezeption.
In diesem Zusammenhang möchte ich nun auf einige Details des japanischen Theaters sowie auch der ostasiatischen Überlieferung im weitesten Sinne hinweisen. Ich tue dies hier aus der Sicht des Amerikaners Ernest Fenollosa, der als Mittler zwischen Ost und West seit über hundert Jahren großen Einfluß gewinnen konnte.
Die folgenden Zitate, mit kurzen Zwischenbemerkungen von mir, werden in diesem Zusammenhang ohne wissenschaftlichen Anspruch der Gegenüberstellung, Analyse, Schlußfolgerung wiedergegeben.
An den Anfang möchte ich ein kurzes Zitat stellen, welches die Wirkung der ostasiatischen Kultur auf die abendländische Kultur beschwört. Es entstammt dem Essay Fenollosas über das NoTheater. Dieser Essay wurde um 1900 geschrieben und nach Fenollosas Tod 1908 von Ezra Pound eingerichtet; er erschien 1916:
"Selbst wenn wir wollten, könnten wir uns in kommender Zeit nicht der fortschreitenden Umwertung unserer erstarrten Maßstäbe durch die zwingende Subtilität des Denkens und die Prägnanz der Formensprache Ostasiens entziehen."
Fernollosa geht sodann den Eigenheiten des NoTheaters nach und stellt es dem griechischen Theater gegenüber:
"... Der Übergang vom Chor der Tanzenden zum Drama entstand in beiden Fällen aus der Entwicklung einer Solopartie, deren Worte mit denen des Chores im Dialog abwechseln. In beiden besteht die schließlich herausgebildete Dramenform aus wenigen kurzen Szenen, in denen zwei oder drei Schauspieler ein Hauptthema darstellen, dessen tieferer Sinn von den poetischen Ausführungen des Chores interpretiert wird. Hier wie dort war die Rede metrisch und besaß eine klare organische Gliederung aus einzelnen lyrischen Partien. Hier wie dort spielte die Musik eine bedeutende Rolle. Hier wie dort war die Handlung eine Modifikation des Tanzes. Hier wie dort wurden farbenprächtige Kostüme getragen... Das japanische Drama ist noch heute lebendig, ist beinahe unverändert in der Form erhalten, die es im 15. Jahrhundert In Kyoto erhalten hat."
Zum Maskentänzer des Gottes in alten japanischen Tänzen, die als Vorläufer des No gelten, bemerkt Fenollosa:
"... Die Blitzlichtaufnahmen von einem solchen Tanz nehmen sich aus wie Blitzlichtaufnahmen von Skulpturen. Die Bewegung selbst aber, wie ein kinetisches Bild in Farben, ist der Tonkunst vergleichbar."
Nach dem Eingehen auf die historischen Zusammenhänge, die das Entstehen des No-Theaters bis zum 14. Jahrhundert betreffen, faßt Fenollosa die ästhetische Totalität des No zusammen:
"...kommt eine feinsinnige Angleichung von einem Halbdutzend überlieferter Kunstformen zusammen, die gleicherweise Auge, Ohr und Geist der Betrachter ansprechen, eine Einheit, die eine Intensität des Empfindens hervorruft... Alle Bestandteile - Kostüme, Bewegung, Vers und Musik - verschmelzen zu einem einzigen kristallischen Anreiz."
Nachdem ich versucht habe, mit Hilfe der Interpretation durch Ernest Fenollosa einiges zu verdeutlichen, was mir im Hinblick auf das Zusammenwirken des Auditiven und des Visuellen - so wie dies im ostasiatischen Theater erkennbar wird - von Wichtigkeit zu sein scheint, möchte ich auf das eingehen, was Fenollosa, wohl aus ähnlicher Intention, über das Zusammenwirken der zeitlichen und räumlichen Vorstellungen, so wie sich dies im Phänomen des chinesischen Schriftzeichens darstellt, zu sagen hat.
Fenollosa geht davon aus, daß die chinesische Sprache, im Gegensatz zu den abendländischen Sprachen, im Grunde "Zeitwort-artig" ist: "Das Ding wird hier als etwas erfaßt, das unlösbar in den Zeitablauf verstrickt ist und sich einer abstrahierenden Fixierung entzieht."
Aus dem Essay von Fenollosa, Das Chinesische Schriftzeichen als Organ für die Dichtung, eingerichtet und herausgegeben 1917 von Ezra Pound, möchte ich nun einige Textstellen anführen, die mir die Bedeutung einer integrierenden Raum-Zeit-Erfahrung klar herauszustellen scheinen -eben jener Erfahrung, daß Hören und Sehen in einem einheitlichen Vorgang des Erfassens, Weiterleitens und Abgebens gegenseitig angeschlossen sind:
"Vielleicht sind wir uns nicht immer ganz bewußt, daß sich unser Denken schrittweise vollzieht, und zwar nicht aus Zufall oder aus einer Unzulänglichkeit unserer individuellen Denkvorgänge, sondern weil die Vorgänge in der Natur selbst sukzessiv ablaufen. Die Übertragungen der Kraft vom Agens aufs Objekt, aus denen die Naturvorgänge bestehen, spielen sich in der Zeit ab. Ihr Nachvollzug vor dem inneren Auge verlangt daher dieselbe zeitliche Anordnung. Angenommen, wir blicken aus dem Fenster und beobachten einen Mann. Plötzlich wendet er den Kopf und richtet gespannt sein Augenmerk auf irgend etwas. Wir folgen seinem Blick und finden ihn auf ein Pferd gerichtet. Wir sahen zuerst den Mann, ehe er etwas tat; zweitens, indem er etwas tat; drittens, das Objekt, auf das sein Tun gerichtet war. In der Sprache spalten wir den schnellen kontinuierlichen Verlauf des Geschehens und damit das geistige Abbild in die drei wesentlichen Phasen oder Glieder einer Reihe auf und sagen:
Mann sieht Pferd.
Es ist klar, daß diese drei Glieder oder Worte nur drei Lautsymbole sind, die für die drei Phasen eines natürlichen Ablaufs stehen. Wir könnten aber ebenso leicht diese drei Denkschritte mit anderen genauso willkürlichen Symbolen bezeichnen, die nicht auf Lautwerten fußen; zum Beispiel durch die drei chinesischen Schriftzeichen:
|
|
|
Mann
|
sieht
|
Pferd
|
Wenn wir alle wüßten, wofür jedes Einzelzeichen bei diesem Ansichtig-werden-eines-Pferdes steht, so könnten wir uns Gedankenreihen ebensowohl in Bildern mitteilen als in gesprochenen Worten. In gleicher Weise bedienen wir uns gemeinhin der optischen Sprache der Gesten.
Die chinesische Zeichensetzung ist aber alles andere als willkürlich. Sie beruht auf einer lebensnahen Bildkurzschrift der Naturvorgänge. In der algebraischen Formel und im gesprochenen Wort gibt es keine naturgemäße Entsprechung von Ding und Zeichen: alles beruht auf reiner Übereinkunft. Die chinesische Zeichensetzung hingegen folgt dem natürlichen Vorwurf. Zuerst steht da der Mann auf seinen zwei Beinen. Dann durchmißt sein Auge den Raum: eine kühne Figur, dargestellt durch rennende Beine unter einem Auge, ein stilisiertes Abbild eines Auges, ein stilisiertes Abbild rennender Beine, jedem unvergeßlich, der es einmal gesehen hat. Als Drittes steht da das Pferd auf seinen vier Beinen.
Das Bild auf der geistigen Netzhaut wird durch solche Zeichen nicht nur ebenso gut, sondern noch lebhafter und leibhafter als durch Worte wachgerufen. Beine gehören zu allen drei Schriftzeichen: und sie rühren sich. Die Gruppe hat etwas vom Wesen einer kinematographischen Bilderfolge."
Im Anhang habe ich eine Aufstellung beigefügt, aus der ersichtlich ist, wie diese drei chinesischen Zeichen sich aus den ursprünglichen Bildsymbolen entwickelt haben.
Fenollosa geht es in seinem Essay darum, zu zeigen, welche Bedeutung das chinesische Schriftzeichen haben kann, um das Wesen des Dichterischen zu erkennen. Indem er von der "Unwahrhaftigkeit eines Gemäldes oder einer Photographie" spricht, welche für ihn "darin besteht, daß sie trotz ihrer Sinnfälligkeit das Element der natürlichen Abfolge unterschlägt", wie er es in diesem Zusammenhang nennt, kommt er zu folgenden Überlegungen:
"Ein Vorzug der Wortkomposition vor den anderen Künsten rührt daher, daß sie auf die grundlegende
Seinsform der Zeit zurückreicht. Die chinesische Dichtung hat den einzigartigen Vorteil, beideElemente zu vereinen: Sie spricht uns mit der Unmittelbarkeit des Gemäldes an und mit der Wendigkeit der Lautfolge. Sie ist in gewissem Sinne objektiver und dramatischer als beide. Beim Lesen chinesischer Zeichen haben wir nicht das Gefühl, mit abstrakten Spielmarken zu hantieren, sondern wir wähnen, dem Zusammenspiel wirklicher Dinge beizuwohnen.
Verlassen wir für einen Augenblick den Satzbau und betrachten wir diese Besonderheit in der Struktur des chinesischen Wortes, nämlich seine Lebendigkeit, etwas näher. Die frühe Gestalt dieser Schriftzeichen war bildhaft und ihr bildlicher Widerhalt in der Vorstellung hat sich auch bei den später konventionalisierten Zeichen kaum gelockert.
Es ist vielleicht nicht allgemein bekannt, daß die meisten dieser ideographischen Wurzeln eine verbale Grundform der Aktion in sich tragen. Freilich könnte man meinen, daß ein Bild naturgemäß das Bild eines Dinges ist und daß daher die Wurzel begriffe des Chinesischen das sind, was man in der Grammatik Substantive nennt.
Eine eingehende Prüfung zeigt jedoch, daß eine große Zahl der ursprünglichen chinesischen Schriftzeichen, sogar die sogenannten Radikale, stenographische Bilder von Handlungen oder Vorgängen sind.
Diese konkrete verbale Beschaffenheit in der Natur und im chinesischen Zeichen wird aber noch nachhaltiger und poetischer, wenn wir von solch einfachen, ursprünglichen Bildern zu Zeichenverknüpfungen übergehen.
Kraft solcher Verknüpfungen erzeugen zwei Dinge, die man addiert, nicht ein drittes, sondern deuten irgendeine grundlegende Relation der beiden zueinander an.
Das Ding als Einzelheit, das ja dem eigentlichen Substantiv entspräche, kommt in der Natur nicht vor. Die Dinge sind nur die Endpunkte, oder besser die Schnittpunkte von Vorgängen, Trennschritte durch Vorgänge, Momentaufnahmen. Ebenso wenig ist eine abstrakte Bewegung, die dem Verb entspräche, in der Natur möglich. Das Auge sieht beides in einem: Dinge in Bewegung, Bewegung in den Dingen, Substantivisches und Verbales zugleich, und auf eben diese Weise sucht der chinesische Geist sie wiederzugeben.
In Wirklichkeit finden die Vorgänge fortlaufend, ja sogar durchlaufend statt; der eine löst den anderen aus oder geht in ihn über... Alle Vorgänge der Natur stehen in Wechselbeziehungen; und daher könnte es (im Sinne dieser Definition)
keinen geschlossenen Satz geben, ausgenommen einen, dessen Aussprechen fristlos bis ans Ende der Zeiten dauern würde.
Die chinesischen Worte sind so geschmeidig und lebensvoll wie die Natur selber, denn Dinge und Funktionen werden ihrer Form nach nicht getrennt."
Da es Fenollosa in diesem Essay auch "darum geht, unsere eigene, längst verschüttete Denkentwicklung zu erhellen", fragt er sich,
"... wie denn das Chinesische in der Lage war, einen großen gedanklichen Überbau auf der Grundlage einer reinen Bildschrift zu errichten. Dem durchschnittlichen Abendländer, der da glaubt, das Denken habe es mit logischen Kategorien zu tun und der die Gabe der bild nahen Vorstellung eher abwertet, wird diese Leistung völlig unmöglich erscheinen. Und doch hat die chinesische Sprache mit ihren besonderen Mitteln den Übergang vom Sichtbaren zum Unsichtbaren vollzogen, und zwar über genau dasselbe Verfahren wie alle Völker des Altertums: über die Metapher, über das Einsetzen von materiellen Abbildern, um immaterielle Zusammenhänge anzudeuten.
Die ganz feinstufige Substanz der Sprache baut sich aus dem Nährboden der Metapher auf. Geht man der Herkunft abstrakter Begriffe nach, so offenbaren sie altertümliche Wurzeln, die noch im Bereich der direkten Funktion eingebettet sind. Die frühen Metaphern entspringen aber keinem willkürlichen subjektiven Vorgehen. Sie werden nur möglich, weil sie den Fasern im Gefüge der Natur selbst folgen, Beziehungen sind wirklicher und bedeutungsvoller als die Dinge, die sie verknüpfen.
Das Chinesische hat sich die schöpferische Triebkraft und den schöpferischen Vorgang wahrnehmbar und wirksam erhalten. Noch nach Tausenden von Jahren zeigen sich die Entwicklungslinien der Metaphorik, ja in vielen Fällen ist der Vorgang sogar leibhaftig in dem Sinn aufgegangen."
Diese Exkursion in ein Gebiet, von dem ich meine, daß es uns allen - wenn auch weitgehend verborgen - innewohnt, möge nun mit der Schlußpassage dieses Essays von Fenollosa ausklingen, in der er "den metaphorischen Oberschwingungen nebeneinandergestellter Worte" nachgeht:
"Die chinesische ldeographie zeigt ihre Qualitäten schon in einer einfachen Zeile, wie in:
Die Sonne geht im Osten auf.
Die Sinnschwingungen fangen den Blick. Die Fülle der vorhandenen Bildschriftzeichen gestattet eine Wortwahl, in der eine einzelne Oberschwingung alle Bedeutungsebenen tönt.
|
|
|
Sonne
|
erhebt sich (im)
|
Osten
|
Dies ist vielleicht die Besonderheit an der chinesischen Dichtung, die am meisten hervortritt. Beachten wir unsere Zeile näher: Auf der einen Seite die Sonne, das Leuchten, und auf der anderen Seite das Zeichen für Osten, das die Sonne in den Ästen eines Baumes verfangen zeigt. Und im mittleren Zeichen, dem Verb ,aufgehen', ,sich heben', haben wir eine weitere Gleichlagerung:
die Sonne steht überm Horizont."
Nach diesem Versuch, anhand der Deutung der chinesischen Schriftsprache durch Ernest Fenollosa einen Einblick in die geistige Leistung des Menschen, die mit der Bildung von Sprache und Schrift verbunden ist, zu gewinnen, wird vielleicht folgendes deutlich: Die Verschränkung von Raum und Zeit stellt eine dem menschlichen Leben innewohnende Herausforderung dar. Die geis
tige Bewältigung dieser Herausforderung vollzieht sich in einer Art sensorischer Überlistung unserer Erfahrung, die in einer Verknüpfung des Hörens und des Sehens in besonderer Weise zum Ausdruck kommt. Bei aller Vorsicht gegenüber der Gefahr der Vermischung von Vorgängen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben scheinen, möchte ich doch an dieser Stelle die Vermutung aussprechen, daß wir in dem Nachspüren der hier dargelegten Zusammenhänge einen Schlüsssel in der Hand haben, der uns die Differenziertheit der Raum-Zeit-Erfahrung im Hinblick auf die Anwendung und Ausgestaltung im ästhetischen Bereich greifbar werden läßt.
Wenn Fenollosa in seiner kulturellen Mittlerfunktion schon im Jahre 1900 - im Hinblick auf die Kunstgeschichtsschreibung - zu dem Ergebnis kommt, daß sich "eine weltweite Gliederung der Kunst heranbilden wird, in die sich dann alle Spielarten der asiatischen Kunst, der Kunst der Primitiven, ja der Malkünste der Kinder - mit den anerkannten abendländischen Kunstübungen -zwanglos einfügen", so darf dies wohl als Aufgabe für uns verstanden werden, das Ineinandergreifen der Erfahrungswerte des Ohres und des Auges zu neuen Lösungen ästhetischer Kommunikation hinzuführen.
Anmerkungen
1 - Ausstellung: "Für meine Augen und Ohren" in der Akademie der Künste, Berlin, Januar bis März 1980.
2 - Eva Hesse (Hg.), No. Vom Genius Japans. Ezra Paund, Emest Fenallosa, Serge Eisenstein, Arche, Zürich 1963.
3 - Ezra Pound, ibid., zit. im Vorwort von Eva Hesse
4 - Ernest Fenollosa, ibid., zit. im Vorwort von Eva Hesse.
Ableitung der chinesischen Schriftzeichen aus ihrer ursprünglichen Form:
Mensch
|
Auge
|
Pferd
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
= Mann
|
sieht
|
Pferd
|
|
|
|
Aus: Vaccari, Pictorial Chinese-Japanese Characters, Tokio 1970