nmz 98-02 - Portrait: Der Klavierspieler, Improvisator und Performancekünstler
Klaus Runze
Autor: Roman Brotbeck

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Den Körper der Klänge ertasten

Der Klavierspieler, Improvisator und Performancekünstler Klaus Runze

Als sich Klaus Runze in den sechziger Jahren daran machte, das Klavierspiel ohne Noten - zuerst im pädagogischen Bereich, sehr bald aber auch als konzertierender Pianist - zu einer Lebensaufgabe zu machen, gab es dafür kaum Traditionen. Zwar existierten Erscheinungen notenfreier Musik im Jazz oder in der stilgebundenen Improvisation; auch in der Neuen Musik suchte man damals nach den hochdeterminierten Partituren der fünfziger Jahre nach "freieren" Konzepten.

Rena Meyer-Wiel und Klaus Runze in der Klang-Performance "Der Baum danach" / Hiroshima II, Köln Oktober 1995


Mit diesen Tendenzen hatte Runze wenig gemeinsam, weil sie im strengen Sinne gar nicht notenfrei waren: Im Falle des Jazz sind die Formeln und Formabläufe zwar nicht unbedingt auf Papier festgehalten, aber als eingeübte Konvention durchaus im Kopf des Interpreten "aufgeschrieben"; im Falle der stilgebundenen Improvisation, wo ein Interpret aus dem Stand heraus eine Fuge spielt, liegt der springende Punkt gerade darin, dass ein Musiker so "improvisieren" kann als wäre es eine richtige Komposition, und je besser ein Improvisator den Komponisten spielt, desto größer ist sein Publikumserfolg. Und innerhalb der Neuen Musik konnte man sich auch in den freiesten Formen von der Werkidee und der damit verbundenen Kontrolle des Autors kaum freimachen. Klaus Runze hielt zu solchen Formen nicht-notierter Musik größte Distanz. Ihm waren auch die "Entäußerungen", wie sie in sogenannten "befreiten" Formen wie dem Freejazz allenthalben gepflegt wurden, kein Thema. Sein Ausgangspunkt war die Taste, die Berührung der Finger mit der Taste, die Berührung der Tangente mit der Saite - sein Ausgangspunkt war das Tasten. Der von einer klassischen Ausbildung herkommende Pianist erkannte, dass im Notenspiel dieser direkte, quasi erotische Kontakt zum Klavier und zu dessen "Atmungsapparat" nämlich zur Tastatur verloren gehen kann. Bei der Interpretation von Werken steht das Tasten immer im Dienste von etwas anderem, dem Instrument vorerst fremdem. Runze versucht das Klavier von dieser ihm wie keinem anderen Instrument zugewachsenen Vermittlerrolle zu befreien und das Klavier als Klavier zum Klingen zu bringen, gewissermaßen das Klavier sich selbst werden zu lassen.

Das Klavier als Klangskulptur

Bereits bei seinen ersten Versuche auf diesem neuen Gebiet fällt bei Runze dieses Hier und Jetzt auf, diese Streben nach Unvermitteltem, Direktem. Seine Klavierklänge sind sich selber. Es gibt in Runzes Musik kaum Abbild, Reflex, Vorausnahme, Andeutung und ähnliches; vielmehr äußert sich im Sosein der Klänge ein geradezu skulptural zu nennendes Moment. Runze kann auf Klängen beharren, kann ihren "Körper" abtasten, bis sie wirklich ganz "begriffen" sind. Das Klavier wird ihm zur reichen Klangskulptur, bei der mal dies, mal etwas anderes erklingen kann. Allerdings handelt es sich dabei um eine äußerst bewegliche, elastische Klangskulptur, deren Gestalt ständig modifiziert werden kann. Das Klavier wird auf diese Weise in einem ganz radikalen Sinn von seinen ihm vor allem im 19. Jahrhundert zugewachsenen Bestimmungen als multifunktionaler Hausmusikapparat befreit.

Wie gesagt, die Produktion des Tones ist Klaus Runzes wesentlicher Ausgangspunkt. Er strebt nach einem differenzierten Kontakt zur Taste und zu unterschiedlichsten Artikulationsformen von der Taste aus, natürlich auch zu unterschiedlichen Verbindungen der Tasten untereinander, zum Beispiel extremes Legato oder extremstes Staccatissimo. Runze schafft es dabei, das Klavier wirklich zum Atmen zu bringen und alle Verhärtungen aufzulösen und in ein elastisches Klanggewebe zu verwandeln. Er greift dabei zu Hilfsmitteln, welche andere Pianisten wohl gerade am Klavierspielen hindern würden, so benützt er verschiedene Handschuhe, welche differenziertestes Glissandospiel ermöglichen, oder er umwickelt die Hände mit Seiden- und Baumwolltüchern und spielt dann wie eine Robbe Klavier. Das ermöglicht ihm ein einzigartiges Clusterspiel und Klangzerfransungen, wie sie mit normalem Fingerspiel ausgeschlossen sind. Wenn Runze wie andere mit bloßen Fingern spielt, dominiert sehr viel Vokales: Runze kann mit den Tasten schnalzen, flüstern, schreien, in extremem Legatospiel aber auch singen.

Manchmal versucht der Pianist auch einen enormen Nachteil des Klaviers zu beheben: Hat nämlich beim Klavier der Hammer die Saite mal angeschlagen, bleiben dem Pianisten außer dem Pedal keine Möglichkeiten mehr, den -Ton zu verändern. Das führte schon sehr früh dazu, dass Runze auch in den Saiten des Flügels spielte und die Klänge verfremdete und abdämpfte, wobei auch hier im Vordergrund stand, eine elastische Klangwelt zu erzeugen. Runze gibt sich dabei nicht mit einer fixierten Präparation wie dies seit Cage häufig vorkommt - zufrieden, es ist ihm vielmehr ein Anliegen, den Klang während der gesamten Saitenschwingung noch begleiten und modifizieren zu können. Runze sucht nach Dämpfungsmaterial, das den Klavierklang nicht schärft, sondern weicher macht; so sind bei ihm alle Dämpfungsgegenstände mit Stoffen und Filzen umwickelt. Wenn Runze zu solchen Lösungen greift, dann versucht er sie jeweils radikal zu Ende zu denken: So war es ihm wichtig, dass beim Zusammenspiel mit einem "dämpfenden" Partner, der "tastende" wie der "dämpfende" Spieler je eine hohe Autonomie besitzen. Der Dämpfende tut also nicht einfach, was der Spielende will, sondern es entsteht ein Wechselspiel zwischen den Partnern. So kommt es zur seltenen Situation, dass der Ein- und der Ausschwingvorgang bei ein und demselben Instrument von zwei verschiedenen Musikern betreut wird. Nicht im Komponieren und im Entwickeln, sondern in der ständigen Differenzierung, klanglichen Färbung, in der Sensibilität, wie auf den Klang gehört und ihm seine eigene Zeit gelassen wird, erscheint die eigentliche Qualität von Runzes Spiel. Die Vorteile nicht-notierter Musik liegen für ihn gerade in der Überwindung dieses europäischen Zeitsystems, bei dem so vieles in die Kategorien von Vergangenheit und Zukunft gestellt und dabei häufig genug die Gegenwart verpasst wird. Im Formalen nähert sich Runzes Musik den langsamen Formverläufen orientalischer Musik an, ohne dass dabei irgendwie mit äußerlich aufgesetzten Exotismen gearbeitet würde.

Andere Klaviere

Runze ist allerdings nicht nur daran interessiert, das Klavier zu archaisieren und eines der technologisch fortgeschrittensten Instrumente so zu behandeln als wäre es eine einfache Blockflöte, er stürzt sich auch auf jede Gelegenheit, neue oder ungewöhnliche Formen des Klaviers auszunutzen oder das Klavier mit andern Instrumenten zu kombinieren. So spielte er bereits vor fast 20 Jahren mit Begeisterung auf dem Sechzehnteltonklavier des mexikanischen Futuristen Julián Carrillo; das ist ein Instrument, bei dem der ganze Umfang des Klaviers nur eine Oktave umfasst. Wenn man einen Ganzton spielen will, muss man eine Dezime greifen. In jüngerer Zeit probte er mit zwei einander gegenübergestellten Flügeln im Vierteltonabstand, die er dann in der Mitte der beiden Tastaturen spielte. 1996 gab er in Köln ein Konzert auf dem Bösendorfer Imperial, dem Modell der Firma Bösendorfer, das noch eine Sexte unter den Normumfang geht und acht Oktaven umfasst. Mit seinem differenzierten Clusterspiel wird Runzes Spiel auf diesem Instrument sehr bald zur Höhlenwanderung in unbekannten Grüften und Schächten - Untertag-Musik von enormer Wucht, Bohrungen in Moränengestein, Geröll, Schlamm und dazwischen helles Flirren von Quarzkristallen.

Schon früh hat Runze das Klavier mit anderen Instrumenten kombiniert, teilweise mit traditionellen Konzertinstrumenten, teilweise mit selbstgebauten Instrumenten, die er explizit Klangskulpturen nennt. Wie der 1974 verstorbene Amerikaner Harry Partch suchte, oder akzeptierte Runze Objekte, welche ihm vor allem der Rhein zutrug. Diese Objekte wurden in einer Art von Klangbäumen versammelt, wie sie von nun an als sonore Flaschenpost aus den Rheinauen in Runzes Musik aufscheinen.

Trio und Duo

In jüngerer Zeit tritt Runze vor allen in zwei Formationen auf: erstens mit dem "Trio STRUZ" (Marianne Steffen-Wittek, Schlaginstrumente; Markus Zaja, Sopransaxophon und Bassklarinette; Klaus Runze, Klavier und Klangskulpturen), zweitens als Duo mit der Vokalistin Rena Meyer-Wiel. In beiden Formationen erkundet Runze neue Klangwelten. Nach zum Teil sehr langen Darbietungen von halbstündiger Länge, tendiert Runze heute in diesen Gruppen zu eher kürzeren und übersichtlicheren Formen, die mit humoristisch- tiefgründigen Namen auch betitelt und von einander abgesetzt werden. Diesen gerade im Falle von STRUZ teilweise sehr ausgearbeiteten Stücken ist mit den traditionellen Kategorien von Komposition und Improvisation nicht mehr beizukommen. Zwar stehen weder Detailstruktur noch großformaler Ablauf definitiv fest, indessen ist für jeden Hörer evident, dass - wie bei anspruchsvoller Kammermusik - enorm geübt und gearbeitet wurde. Runzes geradezu experimentelle - manchmal sogar dem Happening zugewandte - Konzeptionen zu Beginn der achtziger Jahre (zum Beispiel wenn Runze zuerst improvisierte und dann zu dieser aufgenommenen und von neuem abgespielten Improvisation noch in perkussiver Malerei simultan mit Rötelsteinen riesige Flächen bemalte), sind durch sehr viel differenziertere Vernetzungen abgelöst worden. Auch der Umgang mit der Spontaneität hat sich enorm verfeinert: Anfang der achtziger Jahre hatte die Spontaneität noch etwas Schockartiges; programmatisch schwang noch ein Moment des Protestes mit, ein sich Absetzen von so viel Determiniertem in Musik und Alltag; heute kann sich Spontaneität durch langes Zusammenspiel bis in die kleinste Faser der Musik ausprägen. Im Großen mag einiges weniger spektakulär wirken, im Kleinen sind die musikalischen Verläufe aber sehr viel besser ausgehört und besser kontrolliert.

Es ist interessant zu beobachten, dass Runze in den beiden Formationen unterschiedliche Rollen einnimmt: Im Trio STRUZ, das mit den Instrumenten Saxophon und Schlagzeug stark an Formationen aus dem Jazz erinnert, spielt er am Klavier und vor allem an seinen Klangskulpturen die Rolle des Querulanten, der die in solcher Formation unausweichliche Tendenz zu Melodie und Begleitung stört irritiert und erweitert.

In Kombination mit der mit allen Wassern gewaschenen Vokalistin Rena Meyer-Wiel übernimmt Runze eher eine ordnende und häufig im wahren Sinne des Wortes (be-)gleitende Rolle. Rena Meyer-Wiel hat eine Stimme, wie sie sich die Avantgarde-Komponisten in den sechziger Jahren wohl gewünscht hätten: Sie kann bruchlos von perkussiven Mundgeräuschen in hohe Koloraturen wechseln, sie verfügt über einen enormen Stimmumfang, sie kennt die unterschiedlichsten Vibrato-Techniken, sie kann auch in unterschiedliche musikalischen Ethnien förmlich hineinschlüpfen, in arabischem, japanischem oder amerikanischem Idiom singen.

Was immer man über die Differenzierung, die Intimisierung, das Zusammengehen im Lied des 19. Jahrhunderts empfunden und gesagt hat, lebt bei Klaus Runze und Rena Meyer-Weil in neuer Weise wieder auf. Runze verzichtet auch hier weitgehend auf Spezialeffekte und beschränkt sich auf das eigentliche Tastenspiel. Der Flügel wird gleichsam zur Lunge der Sängerin, die sie auch bei den waghalsigsten Eskapaden noch stützt und trägt.

Vor zwei Jahren hat Runze die Sängerin auch mit zwei seiner Klangskulpturen begleitet und zwar bei "DER BAUM DANACH. Installation und Elegie Hiroshima 50 als Memorial zum 6. August 1945". Ein kurzer Abriss dieser Performance mag zum Schluss zeigen, was Vernetzung für Runze bedeuten und in welch geradezu kosmischen Weiten die Fäden seiner Arbeit führen können. Im Friedenspark von Hiroshima, nahe dem Hypozentrum des Abwurfs der Atombombe am 6. August 1945, stehen einige ziemlich alte Bäume, die die Katastrophe überlebt haben. Ihr beschädigter Zustand - Verbrennung von Rinde und Stamm an einer Seite - erzählt ihre Geschichte. 1973 wurden am Peace Memorial Museum drei Bäume angepflanzt, die zur Zeit des Abwurfs der Bombe in einer Entfernung von eineinhalb Kilometern gestanden hatten. Diese stehen jährlich in Blüte. Klaus Runze hatte 1988 eine photographische Dokumentation dieser beiden Phänomene erstellt, welche die Grundlage einer Installation mit von Kerzen beleuchteten "Baumlaternen" darstellte. In dieser Szenerie erklang ein Dialog zwischen einer Stimme, welche psychische Grundhaltungen von Ahnung, Erwartung, Betroffensein und Bewahren durchschreitet. Runze "begleitete" auf zwei liegenden Kitharas, die nichts anderes als zwei mit speziell langen Kontrabass-Saiten bespannte Fundhölzer sind: Eine reduzierte, zuweilen beschädigte und doch völlig neue Klangwelt.

Was diese eindrückliche Performance neben sehr vielem zeigt, ist die Fähigkeit von Klaus Runze, jeder Verführung nach Gefühligkeit und Betroffenheitskitsch zu widerstehen. Wenig musikalische Gebiete sind in den letzten Jahren von Fundamentalisten diverser Couleurs überschwemmt und von Eigentlichkeitsgeschwafel dermaßen dominiert worden, wie die sogenannt improvisierte Musik. Klaus Runze hielt sich - obwohl er sehr wohl weiß, in welchen Kontexten er steht in all diesen Fällen an den Ton und an das Tasten. Getastete Töne, die sind, was sie sind, quasi ideologiefrei, das waren und sind bis heute sein Thema.

Roman Brotbeck