Stellvertretend für die Bedeutung der Improvisation für jeden Musiker stehe hier ein Beitrag, der im Jahrbuch Neuland, Ansätze zur Musik der Gegenwart Band 3, 1983, erschienen ist (gekürzt)
Klaus Runze
Geste und Sprache im Instrumentalspiel
Improvisation: Die Vernachlässigung des Selbstverständlichen in der Musikausübung
unter besonderer Berücksichtigung der Ausbildung im Klavierspiel
Was ist Musik? |
Diese "Apologie des Unwägbaren" sei als eindringliche Aufforderung zur Selbstverantwortlichkeit des Musikers vor der Musik selbst - als tönend bewegter Zeit - einer eher nüchternen Bestandsaufnahme vorangestellt.
Wer an einem Ausbildungsinstitut für die Berufe des Musikers arbeitet, ist mitunter entsetzt über die Pervertierung, die die Musik offenbar im Leben derer erfahren hat, die hier nach einer Form suchen, in welcher Musik ihr ferneres Leben zu prägen bestimmt ist. Jahraus, jahrein wird man in gesteigertem Maße der Unfähigkeit gewahr, Musik als das zu erleben, was sie im Leben eines angehenden Musikers doch sein sollte: etwas, was durch ihn hindurchgeht, was er aufnimmt und wieder abgibt - etwas, womit er 'spricht'.
Unterschiedliche Übungen und Kurse zur Improvisation - mit unterschiedlicher Herkunft und Intention der Teilnehmer - haben mir immer wieder gezeigt, dass das Unvermögen, sich mit auch nur einem einzigen Ton zu identifizieren, sehr weit verbreitet ist. Dies legt den Verdacht nahe, dass in der Instrumentalerziehung ganz allgemein eine Vernachlässigung des Selbstverständlichen vorliegt: dass Musik etwas ist, was - beim kleinsten Partikel angefangen - in demjenigen leben muss, der Musik ausübt. Da immer wieder festzustellen ist, dass dies offenbar - im Sinne einer Mangelerscheinung - nur wenig der Fall ist, kommt es zu dem verhängnisvollen Auseinanderdriften der Inhalte der Musikausübung: z.B. der allgemeinen Trennung von "historischer" und "heutiger" Musik - um in diesem Zusammenhang nur einen der wesentlichen Punkte zu nennen. Die Beschäftigung mit Musik, in der sich unsere Zeit eigentlich manifestiert und spiegelt, hat ja meist nur Alibi-Funktion und verdeckt die Tatsache, dass dem Wesentlichen, was Musik ja ausmacht - Sprache zu sein - ausgewichen wird.
Das Stichwort Improvisation ist nun wohl eher ein unzulängliches Hilfsmittel zur Bestimmung dessen, worum es hier geht. Unter Improvisation wird ja im allgemeinen weitgehend das verstanden, was sich im Zuge vielfältiger Prozesse, denen die historisch Musikpflege ausgesetzt gewesen ist, ergeben hat, z.B. liturgisch orientiertes Orgelspiel oder die Spielweise der Instrumente im Jazz - also ein in bestimmtem Rahmen vorgeprägtes Arbeiten mit Bestandteilen der Musik.
Worauf es demgegenüber ankommt, wenn von der Vernachlässigung des Selbstverständlichen gesprochen wird, ist doch dies: Die Musik ist im 20. Jahrhundert in einem Emanzipationsvorgang sondergleichen in Bereiche vorgestoßen, die in vorher nicht gekannter Weise grenzüberschreitend sind. Musik selbst kann nicht mehr im Sinne einer gradlinigen Entwicklung nur als eine Folge der - historisch gesehen - vorausgegangenen Stufen verstanden werden.
Der Musikausübende - und folglich auch der in der Musikausbildung Stehende - kann die Befähigung zur Bewältigung der mit der Situation der Musik in der heutigen Zeit zusammenhängenden und auf ihn zukommenden Probleme nicht allein aus dem Fächerkanon dessen. was ihm auf dem sozusagen geradlinigen Weg der Kenntnisnahme mitgegeben wird, er-langen. Er muss sie vielmehr von woandersher - von dorther, wo Verständnis für das Leben in dieser seiner eigenen Zeit vermittelt wird - beziehen.
Da dies zumeist in nur geringem Maße geschieht, sieht er sich vielfach zur Haltung der Abwehr oder der Hilflosigkeit verurteilt, wenn er in Berührung mit dem kommt, was nicht mit den Mitteln der erwähnten Kenntnisnahme in kanonisierter Form zu erfassen ist.
Gleichzeitig ist unsere gesamte musikalische Umwelt in einem Ausmaß akustisch manipulierbar geworden, dass die totale Manipulation dessen, was Musik vor nicht allzu langer Zeit einmal gewesen ist - es handelt sich nur um Jahrzehnte - nicht aufzuhalten ist. Sie muss als Faktum erkannt werden - ja, sie muss anerkannt werden.
Es bleibt bei den Gefahren, die mit dieser totalen Veränderung unseres Verhaltens gegenüber Musik - wir dürfen wohl auch sagen: unseres musikalischen Bewusstseins - gegeben sind, nur ein einziger Ausweg: Die Rückbesinnung auf das, was Musik als sprachliches Phänomen unseres menschlichen Lebens wohl ist und auch bleiben wird: ein Zeichen der Begegnung, ein Mittel der Aussage, zur Geste gewordener Ausdruck.
Rückbesinnung, das heißt hier: der bescheidene Versuch, Musik wieder als Sprache zu entdecken. Dabei liefert die Emanzipation des Klanges, die wir erlebt haben und in der wir mittendrin stehen, ungeahnte Möglichkeiten, sich in der Welt der Töne und Klänge zu orientieren. In diesem Sinne sollte Improvisation - wenn wir schon diesen Terminus beibehalten - die Aufforderung beinhalten, in der grenzenlosen Weite klanglicher Möglichkeiten die unterschiedlichen Eigenschaften des Klanges ausfindig zu machen, welche uns im Ansatz die Mittel zur Aussage an die Hand geben.
"Das Unvermögen, sich mit auch nur einem einzigen Ton zu identifizieren" - was bedeutet dies? Für einen Musiker, der ein Instrument spielt, sollte es selbstverständlich sein, dass ein einziger Ton eine große Anregung darstellt, Musik aus diesem Ton heraus zu erfahren, aus ihm entstehen zu lassen. So wie ein gesprochener Laut in jedem von uns eine Fülle von sprachlichen Entwicklungen hervorrufen kann - sei es, dass wir ein emotionales Lallen aus einem "A" entstehen lassen, sei es, dass wir eine lexikalische Bilderfolge aus einem "Z" anzetteln" und bis zu einem "Zypressenhain" werden lassen. Kinderspiel. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sogar schulisch verwertet. Vom Aufschrei bis zum Flüsterhauch vermögen wir das Alphabet in der einen oder anderen Weise zu beleben - doch wohl jeder von uns.
Und ein Musiker, dem ein Ton wie ein Ball zu-geworfen wird? Er bleibt wohl zunächst weit-gehend ratlos, weil ihm dieser Ton - eigentlich ein wesentlicher Bestandteil seiner eigenen Existenz - ohne den Zusammenhang überantwortet wird, in dem er ihn sonst, auf dem Weg der kanonisierten Kenntnisnahme, begegnet. Er kennt nicht die Eigenschaften, die ihn prägen - die Kräfte, die ihm eigen sind - die Verwandlungen, die dieser Ton aus sich heraus möglich werden lässt. Er weiß nicht, dass er "mit" ihm sprechen kann, dass er mit dem Sprechen, das er aus ihm gewinnt, musikalische Figurationen ableiten kann. Dass er aus ihm heraus spielen kann, spielen mit ihm, dass er "in" ihm Spiele finden, erfinden kann, die über die momentane, persönliche Situation hinausweisen. Dass er gestalten kann, wenn er ihn nur nimmt, wenn er ihn annimmt.
Konkret: Ich habe über Jahre - u.a. an der Musikhochschule Köln in Übungen zur Freien Improvisation, aber auch in anderen Zusammenhängen - entsprechende Aufforderungen an Studierende, aber auch an die, welche einmal Studierende waren, herangetragen. Es war überwiegend Klavierspielende im Hauptfach. Wenn es mir erlaubt ist zu versuchen, die Erfahrungen, die ich dabei sammeln konnte, zusammenfassend zu deuten, so zeigt sich überwiegend dies:
Unter dem Mantel des Verwunderns, dass es so etwas gibt, zeigt sich verstohlen das Eingeständnis, dass man es ja für sich selbst gesucht hat. Dass man zunächst kaum imstande ist. sich in seinem musikalischen Tun ent-sprechend zu öffnen, wird als Zeichen einer bedenklichen Fehlentwicklung, in welcher man sich befunden hatte - nicht selten gar als ein musikalisches "Stumm-Sein" - erkannt. Dass man bei tastenden, zunächst "stammelnden" Versuchen bemerkt, wie stabilisierend derartige Bemühungen auf die Fähigkeit zur Verantwortung gegenüber der Musik schlechthin wirken, führt zu einer wesentlichen Erkenntnis: Musikalisches Tun muss die Person selbst erfassen - und das in einem viel höheren Maße, als man dies eigentlich vermutet hatte. Sprechen mit Tönen muss zur Geste werden. Geste in der Musik: formgewordener Ausdruck dessen, was es zu sagen gilt.
Natürlich dreht es sich nur beispielhaft um den "einen Ton". Gemeint ist der Vorgang, Erfahrung von Klang in eine Entwicklung musikalischer Gebilde zu überführen - Erfahrenes einmünden zu lassen in dessen eigne Verwandlung. Dies geht nicht ganz ohne modellhafte Beispiele - z.B. durch verbalisierte Hinweise, welche einerseits der Gefahr der Verabreichung allzu simpler Improvisationsrezepte entgegenwirken, andererseits aber allzu vage Andeutungen über Gefühle oder Stimmungen vermeiden.
Das entscheidende Hilfsmittel ist das dialektische Verhältnis der Reduktion und Auffächerung zueinander: Rückführung möglicher Erscheinungsformen auf ein kaum Fassbares, welches sowohl geringfügig zu sein scheint als auch für sich allein wenig aussagt. Dem gegenüber dann die Animation, diesem kaum Fassbaren eine Prägung zu geben, es zu verwandeln, zu gliedern - zu spalten, zusammenzufassen - aufzufächern, um in ihm eine Aussage zu finden, möglich zu machen.
Bestandteile der Musik, nur andeutungsweise vorgegeben, werden aus innerer Vorstellung heraus, welche sich Hand in Hand mit der Sprachentfaltung bildet und konkretisiert, zu Gestaltungen geführt, die im Ergebnis nur als klingende Gegenwart vorliegen. Das in der Zeit Klingende, das "Verklingende", war dann das, was durch Auffächerung seine zusammengesetzte Form gefunden hat. Das so "Zusammengesetzte" - das "Komponierte" -wird damit das, worin sich Befähigung zur Verantwortlichkeit gegenüber der Musik erweist.
Die Musik ist durch den, der die Offenheit und Bereitschaft für diesen Vorgang aufgebracht hatte, hindurchgegangen. Er, der in dieser Erfahrung gestanden hatte, ist zur "Person" der Musik geworden - im Sinne der persona, der Maske des antiken Schauspielers. durch welche die dargestellte Rolle, die "Person" hindurchtönt.
Was soll's? Die Verkrustungen sind sehr stark. Seit langem. Seit Jahrtausenden? Die Vermutung liegt nahe. dass man die Jahrzehnte, in denen sich diese Verkrustung vollzogen hat, an seinen zwanzig Fingern und Zehen nachvollziehen kann. Die Entwicklung der jüngsten Zeit - nehmen wir Jahre an - trägt in sich Keime zu einem zyklischen Verständnis unserer selbst: wir sind früheren Jahrhunder-ten, ja Jahrtausenden vielleicht viel näher, als es den Anschein hat.
Nehmen wir unseren Weg selbst in die Hand: Vielleicht können wir die "letzte" Verkrustung, die in der totalen Manipulation des Akustischen liegt, umwandeln in einen erfrischenden Häutungsprozess: eine bewegliche, luftige Haut umgäbe uns, Resonanz in uns wek-kend. Gewisse Erscheinungsformen der auditiven Umwelt deuten durchaus darauf hin. Es liegt an uns.
Improvisation ist ein fehlgeleiteter Begriff. Wenn wir ihn beibehalten, sollten wir Wachheit bewahren. Vernachlässigen wir nicht das Selbstverständliche, wenn wir uns ums Instrumentalspiel bemühen: die Musik verlangt es uns ab, Gesten zu finden, mit denen wir die Hand nach ihr ausstrecken. Gesten, welche es uns möglich machen, dass wir ihrer der Musik als Sprache in uns gewahr werden.
Das Verständnis für diese Zusammenhänge darf nicht auf pädagogische Aspekte beschränkt bleiben. Es geht um das Gewinnen um Einsichten, dass es die Verkürung des Künstlerischen durch pädagogische Vorgaben, welche allzu leicht zur Bevormundung werden können, nicht geben darf. Wenn es um die Frage des Erlebens geht, gibt es nur das Leben. Wenn es um die Frage der Musik geht, gibt es nur die Erfahrung des Klingenden.
Erschienen in:
Neuland / Ansätze zur Musik der Gegenwart
Jahrbuch, Band 3 (1982/83), hg. v. Herbert Henck
ISBN 3-922875-04-1
© 1983 Klaus Runze