Ein neues Gebiet der ästhetischen Wahrnehmung
Aus "Werk" (Architekturzeitschrift) Heft 2 (Februar) 1968 Winterthur
Das Dorf Avcilar in Kappadozien (Anatolien) ist besonders typisch für die pyramidalen Steine und die davor gebauten kubischen Häuser. (Im Zuge einer Verwaltungsreform etwa Anfang der 90er Jahre erhielt das Dorf Avcilar den Ortsnamen "Göreme". Der Mittelpunkt im Tal von Göreme heißt nunmehr "Museumspark Göreme" und wurde von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt.) |
Erosionsformen aus härteren und weicheren Gesteinsmassen |
Die Wahrnehmung der Natur als Gegenstand geschieht durch diese Verinnerlichung, deren Mitteilung und Lektüre schließlich die Kulturwerdung der Landschaft erlauben. Ohne Zweifel müsste man bei dieser psychologischen Erweiterung beginnen, um zu einer anwendbaren Erkenntnis zu kommen. (Man kann sich sogar fragen, ob nicht das Fehlen einer solchen Erweiterung in der industriellen Welt den gesellschaftlichen Misserfolg des Design erklärt.) Emilio Sereni hat in bewundernswerter Weise die Höhepunkte der schönen Landschaft von Varro bis zu den toskanischen Malern des 15. Jahrhunderts sichtbar gemacht, während der Agronom Ridolfi gegen 1850 sein Programm der Bewirtschaftung der Hügel nach den Möglichkeiten des ländlichen Kapitalismus als einen Akt der ästhetischen Landschaftsgestaltung beschrieb1.
Auf die aktive (und überwuchernde) Landschaft der Romantik folgte eine umgekehrt gerichtete Zeit, welche die Natur in den Rang eines auszubeutenden Gegenübers rückte. Seit dieser Zeit bedeutet der Einbruch des Menschen in die Natur in immer steigendem Maße eine Katastrophe für die Ökologie unseres Planeten.
Weinreben und Ölbäume stehen zwischen den Felsnadeln und Bimssteinhängen auf jedem Quadratmeter Boden |
Weinreben und Ölbäume...(s.o.) |
Härtere Gesteinsmassen, vulkanische Auswürfe, waren in den weichen Tuff eingeschlossen,
der allmählich hinwegschmilzt |
Bisher hat sich das Interesse auf die Fresken und die Kapellen konzentriert, welche ein Zusatz zur Fremdheit dieser Umwelt sind; niemand hatte bisher auf die heutigen Bewohner geachtet, und erst recht hat niemand die drei Komponenten der Landschaft als eine notwendige Einheit verstanden. Die Geologie Kappadoziens zeigt «Kunst ohne Künstler» und «serielle Abwandlungen».
Im zweiten Fall beruht das Außerordentliche auf der Kombination weicher, fortlaufender Oberflächen, die von Poelzig oder dem frühen Mendelsohn modelliert sein könnten, mit den, trotz der Zufälligkeit der Durchstiche, doch geometrischen Absichten der Mönche - in anderen Worten, auf der fehlenden Übereinstimmung zwischen der Hülle und den Innenräumen. Es ist im übrigen ungenau, von Umhüllung zu sprechen! Die inneren Gänge, die frei in die Felsmasse verteilt sind, erinnern an die Ganglien unserer Bergfestungen: innengerichtete Architektur, welche in den Überfluss des Berges gebohrt ist, dessen Druck sie überall spürt.
Im ersten Falle, bei weitem der häufigere, haben die Kräfte der Erosion Gebilde geschaffen, welche einem regelmäßigen Muster zu folgen scheinen, bei welchem Klaus Runze den verblüffenden Aspekt eines zugleich vollendeten und alles Maß übersteigenden Objektes unterstreicht. Die Betonung liegt hier auf der Landschaft als plastischem Phänomen, und der Photograph hat eine Reihe von Beispielen gewählt und sie so behandelt, als wären sie Skulpturen. Er geht um sie herum, er begreift sie in ihren Gruppenbeziehungen und in ihrem Verhältnis zur Umgebung, zeigt sie unter verschiedenen Gesichtswinkeln verteilt Gewicht und Gegengewicht, zeigt verschiedene Beleuchtungen und schließlich Details. Die Wirkungen des Maßstabs, die zufälligen Gruppierungen von surrealistischer Lyrik, wechseln ab mit kolossalen freistehenden Massen, mit Serien ähnlicher Formen, mit ausgezacktem Gewölbe von Leerräumen.
Roger Caillois3, der Sammler der Launen der Natur, unterscheidet vier Typen ihrer Formenentstehung: den Zufall, das Wachstum, das Projekt und den Guss, von welchen dennoch hier keiner passt. Es handelt sich nicht um Zufall, denn wir haben Ordnung, Symmetrie, Repetition und Rhythmus vor uns; noch von Wachstum, denn die Entwicklung hat die ursprüngliche Form nicht respektiert; noch von Projekt, denn es gab keine Absicht oder bewusste Aktion eines Lebewesens; noch von Guss, denn es ist keine zweite und maschinell entstandene Form. Der Abdruck scheint aus dem Inneren zu kommen Die hier gezeigten Photographien geben nur eine Kostprobe. Sie sollen mit anderen zusammen zu einem Bande vereinigt werden, welcher den Gang der Besichtigung folgt und damit ein Instrument der Kenntnisnahme bildet, welches eine Absicht und eine Gegebenheit in Parallele setzt.
Felsenkapellen im Tal von Göreme, zum Teil mit rotbraunen, nicht figürlichen Malereien
- z.B. in der sogenannten Barbara-Kirche -, welche der negativen Architektur den Anschein einer gebauten Struktur geben (8. bis 9. Jahrhundert) |
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Zum Abschluss: Detail der Felswand von Cavusin (siehe zuvor) |
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Anmerkungen:
1 Emilio Sereni: «Storia del paesaggio agrario Italiano», Ban 1961.
2 Zu den etwa 365 Heiligtümern, welche Guillaume de Jerphanion entdeckt hatte («Une nouvelle province de l'art byzantin: les eglises rupestres de Cappadoce», Paris 1925-1942), kamen seither viele weitere hinzu; neuestens auch mehrere unterirdische Städte, deren eine, von 6 km2 Ausdehnung, 60000 Personen beherbergen könnte...
3 Roger Caillois: «Esthétique généralisée», Paris 1962, 511ff.